Ein Tête à Tête mit Julia Roberts
Ein Reisebericht aus Neapel. Von Simon Felix.
Was um Himmelswillen soll ich in Neapel? Diese Frage schoss mir durch den Kopf, als mich an einer Tourismusmesse eine Mitarbeiterin des Kampanien-Standes ansprach und versuchte, ihre Reisen zu verkaufen. "Bieten Sie kulinarische Reisen an?" fragte ich. Schliesslich suchte ich auf der Messe neue Partner für meine Genussreisen. "Selbstverständlich!" entgegnete sie mir. "Neapel ist die Heimat der Pizza. Hier wurde die Pizza mit Tomatensauce und Mozzarella erfunden. Und wir bieten Kochkurse an." Damit hatte sie mein Interesse geweckt und ein paar Monate später sass ich im Flugzeug nach Neapel.
"Möchten Sie lieber Automat oder Handschaltung?" fragt mich der Autovermieter am Flughafen von Neapel. "Handschaltung geht in Ordnung." entgegne ich ihm. Ein paar Sekunden später präsentiert er mir den Mietvertrag und ich muss an sechs verschiedenen Stellen unterschreiben. Etwas skeptisch bin ich schon, Neapel hat ja nicht gerade den seriösesten Ruf. Ich unterschreibe und frage ihn wie ich am besten in die Via Carbonara gelange. Er erklärt mir den Weg und meint "Aber passen sie auf und lassen sie den Wagen nachts nicht draussen stehen. Die Via Carbonara ist nicht die feinste Gegend." Er drückt mir die Schlüssel für einen Citroen C1 in die Hand und ich mache mich auf den Weg. An der Zahlstelle der Autobahn warten schon die ersten Zigeunerinnen mit einem Pappbecher in der Hand. Ich verzichte auf eine Spende und fahre weiter Richtung Stadt. Die Autobahnausfahrt ist ein Wirrwar von Strassen und ich weiss nicht, ob ich auf der richtigen Spur bin. Aber plötzlich bin ich Mitten im Verkehrschaos von Neapel. Die Verkehrsregeln begreife ich schnell: Ich habe zwar keinen Vortritt, aber ich fahre. Die anderen bremsen schon an und lassen mich durch. Auf der Strasse wird jeder Zentimeter ausgenutzt. Auf der vollgestopften Strasse reihen sich die fahrenden Autos dicht nebeneinander. Überall, und ohne eines Blickes auf den Verkehr, überqueren die Fussgänger die Fahrbahn. Wie ein Neapolitaner schlängele ich mich durch die Quartiere. Die Häuser sehen heruntergekommen aus und überall liegen Berge von Abfall herum. Auf der Fahrt ins Zentrum werden die Strassen immer enger. Unter vollgehängten Leinen mit Wäsche brause ich durch die schmale Salita Pontenouvo. Am Ende der Strasse biege ich in die Via Carbonara ein. Zu meiner Rechten steht das MGallery Caracclio Pallazzo. Mein Hotel ist ein ehemaliger Palazzo, der liebevoll renoviert wurde.
Nach dem Check-in begleiten mich die Rezeptionistin und der Page durch die langen, verwinkelten Gänge zu meinem Zimmer. Die Innenräume in diesem historischen Gebäude sind alle in reinstem weiss gehalten. In der Mitte befindet sich ein Innenhof, der wahrlich eine Oase der Ruhe ist. Mein kleines Zimmer ist gegen eine Seitengasse gerichtet. Ich schaue durch das Fenster und sehe direkt in die Wohnung des gegenüberliegenden Gebäudes. Interessant. Aber ich will natürlich mehr von Neapel, der Stadt der Gegensätze, sehen. Ich mache mich bereit für einen Stadtrundgang. Meine Kamera lasse ich vorsichtshalber im Safe, den Neapel hat, was das organisierte Verbrechen anbelangt, nicht gerade den besten Ruf. Es ist bekannt für Taschendiebe und für die Scippatori, die Handtaschenräuber die mit dem Motorrad unterwegs sind.
Meine Entdeckungstour beginnt beim Dom, der nicht weit von meinem Palazzo entfernt ist. Das Gebäude ist mit seinen Kunstschätzen ein wahrer Gegensatz zu den heruntergekommenen Häuser, die ich am Stadtrand sah. Ich spaziere weiter in die Via Librai, die Teil des Spaccanapoili ist. Der Spaccanapoli ist eine drei Kilometer lange, gradlinig verlaufende Strasse im Herzen von Neapel. Von oben sieht sie wie ein sauberer Schnitt durch die Altstadt aus. Die Gasse ist eng, teilweise etwas finster und mit abgewetzten Pflastersteinen besetzt. Ab und zu kommt wieder ein kleiner Platz, der zum verweilen einlädt. In der Häuserschlucht befinden sich unzählige Ladengeschäfte und Gaststätten. Immer wieder schlängeln sich Motorräder durch die bevölkerte Gasse. Bei der Vico San Maiorani steht alles still. Die Passanten warten und die Händler räumen ihre Ware zur Seite und schaffen Platz. Mit äusserster Konzentration zirkelt der Fahrer eines Fiat 500 von dieser rund zwei Meter breiten Nebengasse in die Via Librai. Er beliefert einen der vielen kleinen Souvenirshops. Ich marschiere weiter. Mein Blick fällt in eine dunkle Seitengasse. Unter dem Schutz einer Brücke, welche die Häuser miteinander verbindet, erwische ich ein junges Liebespaar, dass heimlich und verstohlen herumknutscht. Sie sind für eine kleinen Moment erschreckt, lassen sich aber nicht weiter stören. Ich biege in die bekannteste Nebengasse, die Via San Gregorio Armeno ab. Hier betreiben die berühmten Krippenmacher von Neapel ihre Werkstätten. Beim durchschnöbern entdecke ich nicht nur weihnachtliche Krippenfiguren. Besonders die Exemplare von Silvio Berlusconi, Maradona oder Cristiano Ronaldo stechen mir ins Auge. Ich frage mich, wer sich wohl diese Figuren unter den Weihnachtsbaum stellt.
Auf der repräsentativen Piazza Gesu merke ich, dass ich den Zettel mit der Adresse von der L'Antica Pizzeria da Michele im Hotel liegen gelassen habe. Hier soll angeblich die beste Pizza der Welt serviert werden. Natürlich will ich das persönlich testen. Ich weiss, das Lokal befindet sich irgendwo in der Nähe des Corso Umberto I, einem breiten Boulevard mit unzähligen Billigläden. Einen Stadtplan habe ich auch nicht dabei. Also frage ich mich durch. Mit fuchtelnden Händen erklärt mir ein älterer Neapolitaner den Weg. Ich begebe mich auf eine kleine Odyssee und muss noch zweimal fragen, bis ich schliesslich hoffnungsvoll die Via Pietro Colletta hinunter laufe und bei der Einmündung der Via Cesare Sersale stehen bleibe.
Das muss es sein. Ich stehe vor der L'Antica Pizzeria da Michele. Völlig unscheinbar präsentiert sich das berühmte Lokal. Mit knurrendem Magen trete ich ein und schaue mich um. Das Restaurant besteht aus einen kleinen Raum und einem noch kleineren Nebenraum mit ein paar Tischen aus weissem Marmor, alle eng nebeneinander gereiht. Neben dem Eingang befindet sich ein kleiner Schalter mit einer Kasse. Dahinter sitzt, etwas eingepfercht, der Chef. Hier werden auch die Take-Away Bestellungen ausgeliefert. Im hinteren Teil des Raumes befindet sich Küche, die mit einer Glaswand abgetrennt ist sowie drei Stapel mit Pizza-Kartons. Sie stehen bereits so schief wie der Turm von Pisa. Daneben ist ein grosser Pizzaofen, der mit Holz gefeuert wird. Die Wände sind bis zu der halben Höhe mit weissen und mit grünen Kacheln verkleidet. Darüber hängen Fotos aus vergangenen Zeiten. Ich setze mich an den hintersten Tisch neben der Küche. Hier habe ich die beste Aussicht auf das Geschehen um den Ofen. An der Glaswand vor meiner Nase hängt ein grosses Foto von Julia Roberts, die herzhaft in ein Stück Pizza beisst. Das Foto wurde hier während den Dreharbeiten zum Film "Eat, Pray, Love" aufgenommen. Schmunzelnd betrachte ich das grosse Foto auf der anderen Seite meines Tisches und denke mir dabei, dass ich ja nun quasi ein Tête à Tête mit Julia Roberts habe.
Während ich auf meine wohlverdiente Pizza Margarita und auf mein Bier warte, beobachte ich die Pizzaiolos. Mit einer Leichtigkeit und einer Eleganz verrichten sie ihr Handwerk. Jeder Handgriff sitzt perfekt. Sie sind ein eingespieltes Team. Der erste Pizzaiolo zaubert aus einer Kugel Teig einen Fladen, der in der Mitte hausdünn und am Rand etwas dicker ist. Er belegt ihn mit einer Sugo aus frischen, sonnengereiften Tomaten und mit hochwertigem Büffelmozzarella. Beides sind regionale Produkte von hervorragender Qualität und sind, nebst dem weichen Mehl, die massgebenden Faktoren für den guten Geschmack der Pizza. Die Pizza ist belegt. Nun folgt der Auftritt von Pizzaiolo Nummer zwei und Nummer drei. Ersterer streckt eine grosse Holzkelle entgegen und der zweite achtet darauf, dass die Pizza millimetergenau auf der Kelle liegt. Schwungvoll wird die Pizza in den heissen, mit Holz gefeuerten Ofen geschoben. Das Prozedere wiederholt sich laufend. Es gleicht einer Fliessbandarbeit. Doch plötzlich gibt es eine Unterbrechung. Nervosität steigt auf. Die Pizzaiolos eilen zu dem Tisch neben mir. Der Amerikaner, der dort sitzt, hat sein brandneues IPhone gezückt und schiesst Fotos. Mit leuchteten Augen bestaunen die Pizzaiolos das neue Wunderding. Einer zieht sein älteres Modell aus der Hosentasche und vergleicht es mit dem Neuen. Nur ein älterer Pizzaiolo scheint dies nicht zu beeindrucken. Er bleibt neben dem Ofen stehen und amüsiert sich über seine Arbeitskollegen. Er schaut zu mir, tipp mit ausgestrecktem Zeigefinger dreimal auf seine Stirn und deutet mit einer Kopfbewegung auf seine Kollegen. Ich grinse und gebe ihm mit einem Nicken meine Zustimmung.
Meine Pizza wird serviert. Sie duftet herrlich und sieht lecker aus. Ich greife zu meinem Bier und proste Julia zu. Voller Erwartung beisse ich in die Pizza. Sie ist köstlich und ich geniesse jeden einzelnen Bissen dieser echt neapolitanischen Pizza. Sie ist tatsächlich die beste Pizza, die ich in meinem Leben je gegessen habe. Glücklich und zufrieden begebe ich mich auf den Heimweg in mein Pallazzo.